CHARAKTER EINES NATURRAUMES
Zu Myrtha Steiners Landschaftsbildern aus Colomé, Argentinien
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Die erste visuelle Begegnung mit einem Kunstwerk ist immer die unmittelbarste – und oft entscheidet sich dann bereits, ob es einen intensiven Eindruck hinterlässt und danach verlangt, sich weiter auf das Werk einzulassen, oder ob es einen kaum berührt.
Meist überträgt sich dabei auch etwas von der künstlerischen Einfühlung auf die Betrachtenden.
Dies gilt für mich in besonderem Masse für die jüngsten Landschaftsbilder von Myrtha Steiner, entstanden nach einem längeren Aufenthalt in Colomé, einem der ältesten Weingüter in den zugleich kargen wie üppigen Höhen Argentiniens.
Während ihres Aufenthalts hat sich Myrtha Steiner ganz auf den Fluss und den Rhythmus der höchst fruchtbaren und doch auch ausgetrockneten Natur mit ihren kleinen, eigenartigen Gewächsen und den fleischlichen Kakteen eingelassen. Sie hat sich ihr in jeder nur möglichen Weise sinnlich angenähert, sich diese bei unterschiedlichen Tageszeiten und Lichtverhältnissen ganz einverleibt. Vor Ort entstanden kleine Skizzen, die teils einen Nahblick, einen unscheinbaren Aspekt wiedergeben, teils mit wenigen gezielt gesetzten Linien auf winzigem Format die Weite dieser Berglandschaft erfassen. In grossformatigeren Blättern, mit Tusche und Bleistift gearbeitet, hat dann bereits ein gewisser Abstraktionsprozess, eine grosszügige Zusammenfassung der wesentlichen Elemente in Fläche, Fleck und Linie stattgefunden. Der reine Abbildcharakter ist einer verdichteten Innenschau gewichen, die den zeitintensiven Prozess des Vertrautwerdens der Künstlerin mit ihrer Umgebung widerspiegelt.
Zurückgekommen ins Zürcher Atelier, übersetzt Myrtha Steiner schliesslich in örtlichem und zeitlichem Abstand die keineswegs nur visuelle, sondern die im ganzen Körper gespeicherte Erinnerung an die Landschaft in grossformatige Gemälde. Ein Wissen, das über ein rein intellektuelles Wissen weit hinausgeht, führt ihr dabei den Pinsel.
Das Arbeiten in Werkzyklen bestimmt seit vielen Jahren das Schaffen von Myrtha Steiner. Ein Thema wird jeweils über Monate hinweg befragt, bearbeitet, verfolgt. Die konzentrierte Spannung und die dichte Präsenz ihrer Bilder resultieren nicht zuletzt aus dieser ausdauernden Hingabe an einen Themenkomplex. Auch die quadratischen Bildformate, die verwendete Mischtechnik von Acryl- und Gouachefarben sowie der malerische Prozess stellen ein Kontinuum im Werk der Künstlerin dar. In dieser Treue sich selbst gegenüber liegt eine der grössten künstlerischen Herausforderungen. Sie zeigt sich schon in der Wahl des quadratischen Formats, das von sich aus nicht für das eine oder andere Sujet plädiert. In geduldiger Arbeit und im ständigen Dialog mit ihrem inneren Wissen und dem äusseren, zweidimensionalen Abbild davon trägt Myrtha Steiner Schicht um Schicht auf die unregelmässig vorgrundierte Leinwand auf. Subtil gestaltet sie Raum und Licht, indem an einzelnen Stellen die Farben deckend aufgetragen, an anderen durchscheinend übereinander gelegt werden.
Die Erfahrung und die Empfindung einer Landschaft – zwei voneinander verschiedene Ebenen der Wahrnehmung – übertragen sich in Bilder, die nie nach blossem Wiedererkennungseffekt suchen. Von klassischer Landschaftsmalerei, die eine eindeutige, geografische Verortung erlaubt und Erde und Himmel wiedergibt, sind Myrtha Steiners Arbeiten denn auch weit entfernt.
Einmal breitet sich eine argentinische Landschaft – oder vielmehr die Essenz davon – beruhigend und harmonisch vor uns aus. Ihre Einzelelemente nehmen einen fast regelmässigen Rhythmus auf, der ein Muster, ein Ornament ergibt, die farbliche Tonalität ist stark zurückgenommen. Ein anderes Mal erscheint dieselbe Landschaft aufgewühlt, zerrissen, dramatisch, in heftigen Farben und in emotionalem Pinselduktus, und trägt in sich etwas fast Gewalttätiges, Schmerzliches. Jedes einzelne Bild in seiner Ausgewogenheit von Harmonie und Spannung vermittelt eine bestimmte Auffassung, eine landschaftliche Impression. Im Dialog der Gemälde entfaltet sich dann das facettenreiche Wesen der Landschaft. Myrtha Steiners Bilder aus der argentinischen Bergwelt können so auch als Metaphern, als psychologische Landschaftsporträts gelesen werden, die in ihrer Zusammenschau präzise den Charakter eines Naturraumes erfassen.
Dr. Bettina Richter, Kunsthistorikerin, Zürich, 2011 www.myrthasteiner.com
CHARACTER OF A NATURAL SETTING
Myrtha Steiner’s landscape pictures of Colomé, Argentina
The first visual encounter with a work of art is always the most direct – often it becomes immediately clear whether a work will make an intense impression, demanding that the viewer examine it more closely, or it will make hardly any impression at all. Usually, some aspect of the artistic sensibility is conveyed to the viewer as well. This is especially the case in Myrtha Steiner’s most recent landscape pictures which were created after a lengthy stay in Colomé, one of the oldest wine regions in the austere yet lush mountain heights of Argentina.
During her stay Myrtha Steiner explored, with special intensity, the flow and rhythm of the highly fertile and yet arid region, with its small, unusual plant life and fleshy cacti. She experienced the natural surroundings with all the senses, taking them in at different times of the day and under different lighting conditions. Small sketches were made in the landscape itself. Some of these offer close-up views, an unlikely perspective, while others suggest the expansiveness of the mountain scenery with less targeted lines and an extremely small format. On the large-format pages, worked with India ink and pencil, a certain abstraction process has taken place – a generous consolidation of the essential elements into surface, spot and line. The pure representational character has given way to a condensed interior view that reflects the lengthy process by which the artist became familiar with her surroundings.
From the geographical and temporal distance of her studio in Zurich, Myrtha Steiner translates her memories of the landscape – which are not just visual but also physical – into large-format paintings. In the process knowledge that goes beyond the purely intellectual guides the brush.
Work cycles have been a guiding principle of Myrtha Steiner’s art for many years. A single theme is questioned, worked out and pursued over the course of several months. The concentrated tension and intense presence of her images result, in part, from this prolonged dedication to a thematic focus. The square format, the combined use of acrylic and gouache colors and the painting process itself form a continuum in the artist’s work. In this faithfulness to herself lies one of the greatest artistic challenges. This is seen in the choice of the square format, which does not lend itself specifically to any particular subject. In patient work and constant dialogue with her inner knowledge and the external, two-dimensional representation of this knowledge, Myrtha Steiner applies layer after layer onto the irregularly pre-primed canvas. By applying single colors uniformly in some areas, while layering them visibly over one another in others, she subtly molds space and light.
The experience and feeling of a landscape – two different levels of perception – are transferred into pictures which do not in any way attempt to elicit a recognition effect. Myrtha Steiner’s works are far removed from the kind of classical landscape painting that allows a place to be geographically identified and that reproduces the earth and sky.
At moments an Argentinean landscape – or rather the essence of the landscape – spreads out before us, reassuringly and harmoniously. The individual elements assume an almost regular rhythm, which yields a pattern, an ornament, and the tonality is starkly reduced. At other times the same landscape appears unsettled, torn up, dramatic, with heavy colors and emotional brush strokes, bearing in it something that is almost violent, painful. Maintaining a balance between harmony and tension, each individual picture communicates a certain concept, a landscape impression. In dialogue with one another the paintings yield the multifaceted essence of the landscape. Myrtha Steiner’s pictures of the Argentinean mountains can thus also be interpreted as metaphors, as psychological landscape portraits which, together, precisely elicit the character of a natural setting.
Dr. Bettina Richter, Art Historian, Zurich, October 2010